Eine Geschichte aus meinem Leben – Lieber eine Fehldiagnose als gar keine Diagnose?

Kapitel 1: Meine Symptome

„Hallo! Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten!“ Mit schnellen Schritten trat die Ärztin in das Behandlungszimmer ein, in dem ich vor einer halben Stunde auf einem kleinen, schwarzen Plastikstuhl Platz genommen hatte. Sie blickte mich kurz an, bevor sie hinter sich die Tür schloss. Grüne Augen hatte sie. Mehr konnte ich von ihrem Gesicht nicht erkennen, denn sie trug eine Maske. Vor zwei Wochen hatte die Politik beschlossen, dass das Tragen einer Maske in sämtlichen Einrichtungen nun eine Pflicht war. Der Anfang der Corona-Pandemie im Jahr 2020.

Dennoch erinnerte ich mich nur zu gut an das Gesicht der Ärztin, denn sie war mein allgemeine Hausärztin, die mich schon oft wegen einer Erkältung behandelt hatte. Ich mochte sie sehr gerne. Sie nahm sich immer viel Zeit für ihre Patienten, hörte ihnen aufmerksam zu und strahlte eine gewisse Ruhe aus.

„Kein Problem“, erwiderte ich freundlich und schlug meine Beine nervös übereinander. Nun war es gleich soweit: Ich würde der Ärztin erklären dürfen, warum ich hier war. Ich würde ihr meine Beschwerden schildern dürfen. Doch wie? Wie erklärte ich ihr, was mit mir los war? Ich konnte es ja selbst kaum in Worte fassen.

Die Ärztin schritt auf ihren Computer zu, der auf einem hohen Tisch neben meinem Plastikstuhl stand. Dabei strichen ihre langen, lockigen und grauen Haare, die sie locker zu einem Zopf gebunden hatte, über ihren Rücken.

Ich drehte mich ein Stück nach links, um sie besser beobachten zu können. Nachdenklich tippte sie auf die Tastatur ihres Computers und blickte dann auf den Bildschirm. „So!“, sagte sie und ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme. Die Ärztin drehte sie sich langsam zu mir um. Ich schätzte sie auf Ende 50. „Frau Kraft, was gibt’s? Warum sind Sie hier?“

Da war nun die ersehnte Frage. Doch ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich meine Beschwerden beschreiben sollte.

Leise räusperte ich mich und stieß ein unsicheres „Ähm“ aus. Einen Moment schloss ich die Augen, um mich zu sammeln. Egal, wie. Ich musste mich nun der Ärztin mitteilen, musste erzählen, was für Beschwerden ich hatte, sonst konnte ich auf keine Hilfe hoffen. Sonst würde ich niemals wissen, was mit mir los war.

Also setzte ich mich aufrecht hin und fixierte einen Punkt am Ende des Raumes. Ich betrachtete den gepunkteten Boden, während ich zu erzählen begann: „Vor ungefähr einer Woche … Ja, es ist jetzt genau eine Woche her. Es war auch ein Mittwoch. Ich war an der Arbeit, saß dort an meinem Schreibtisch und blickte in den Computer. Ich habe an einem Fall gearbeitet, war also sehr vertieft mit meinen Gedanken. Da passierte mir etwas ganz komisches. Plötzlich war ich wie weggetreten.“ Jetzt traute ich mich zu der Ärztin aufzusehen. Sie erwiderte meinen Blick mit einem ernsten und verständnisvollen Nicken. Keine zusammengekniffene Augen, kein Stirnrunzeln ihrerseits, das ausdrückte, sie wäre verwirrt von meinen Worten. Sie wirkte offen und aufgeschlossen.

Das gab mir Mut, weiterzusprechen. Auch wenn es total chaotisch war. „In meinen Kopf traten unkontrollierbar ganz viele Bilder auf. Sie kamen mir vertraut vor, daher habe ich versucht, sie mir genauer ins Gedächtnis zu rufen. Doch ich konnte sie nicht festhalten. Dann tauchte noch eine tiefe Stimme auf, die mir ebenfalls bekannt vorkam. Ich versuchte ihr zu folgen, doch dann wurde sie leiser und leiser, bis sie und die vielen Bilder wieder verschwanden. Jetzt, im Nachhinein, kann ich nicht mehr sagen, was das für Bilder oder für eine Stimme gewesen sein soll.“

Tief holte ich Luft und war auf einmal sehr erleichtert. Wenn auch etwas holprig hatte ich es endlich ausgesprochen, was mir vor einer Woche passiert war. Pure Panik hatte mich erfasst, als ich plötzlich aus dem Nichts keine Kontrolle mehr über meine Gedanken gehabt hatte. Sie hatten sich verselbstständigt, mir mehrere Bilder und eine Stimme gezeigt, die ich noch nie zuvor gesehen oder gehört hatte, aber sie mir dennoch vertraut gewesen waren. Sie hatten nicht aus meiner Erinnerung gestammt, nicht aus meinem Gedächtnis, sondern schienen aus meiner Fantasie entsprungen zu sein.

Ich verglich dieses Geschehen gerne mit Träumen. Auch in unseren Träumen sind wir manchmal an Orten, die uns bekannt vorkommen, sprechen mit Menschen, die unsere Freunde, Geliebte oder Familien seien, aber wenn wir aufwachen, sind sie uns fremd. Nur das empfundene Gefühl im Traum ist uns dann noch vertraut.

Nachdem ich diesen Kontrollverlust meiner Gedanken hatte, hatte ich meinem Arbeitskollegen davon erzählt, der mir die ganze Zeit gegenüber gesessen hatte, doch ebenfalls so in seiner Arbeit vertieft gewesen war, dass er nicht mitbekommen hatte, was mir widerfahren war. Hätte er mir das überhaupt ansehen können? Hatte ich abwesend geschaut gehabt? Hatte ich meine Augen weit aufgerissen gehabt?

Mein Arbeitskollege hatte nur unwissend die Schulter gezuckt, nachdem ich ihm meinen seltsamen Vorfall geschildert hatte. Er hatte so etwas auch noch nie gehört gehabt. Es hörte sich ja auch vollkommen verrückt an.

Um allein sein und mich ordnen zu können, war ich nach dem Gespräch auf die Damentoilette gegangen. Dort hatte ich die letzten Minuten nochmal Revue passieren lassen. Ein mulmiges Gefühl hatte sich in mir breit gemacht. Es war schon ein seltsames Erlebnis gewesen. Dennoch hatte ich feststellen müssen, dass ich keine Folgeschäden davon getragen hatte. Mir war es nun wieder gut ergangen. Von dem Kontrollverlust meiner Gedanken hatte ich keinerlei Beeinträchtigungen davon getragen.

So hatte ich mich dann dafür entschieden, den Vorfall wie ein unkontrollierbares Muskelzucken an einer Gliedmaße, das genauso nach wenigen Minuten wieder verschwand und keinerlei Grund zur Sorge war, zu behandeln.

Während des Gespräches mit der Ärztin, hatte diese sich zu ihrem Computer umgedreht und wieder auf ihre Tastatur getippt. Sie ließ sich Zeit, bevor sie auf meine Schilderungen antwortete: „Können Sie mir sagen, wie lange sie weggetreten waren?“

Ich pustete laut aus. „Schwierig“, gab ich zu und überlegte. „Ich denke, es sind nur 2-3 Minuten gewesen, aber sie kamen mir sehr viel länger vor.“

Nickend tippte die Ärztin weiter und stellte schon die nächste Frage: „Ist Ihnen das nur einmal passiert? Oder schon öfters?“

„Am nächsten Tag hatte ich das wieder gehabt“, antwortete ich ihr, dieses Mal musste ich nicht lange überlegen. „Da war ich auf dem Weg zur Arbeit, saß im Zug und las ein Buch. Dann hatte ich es auch noch am Wochenende. Erst bei einem Spaziergang mit einer Freundin und am darauffolgenden Tag, als ich Zuhause war. An diesem Tag war es am schlimmsten. Das Erscheinen von den Bildern und der Stimme hatten mein Gedächtnis so dominiert, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war oder wer ich war.“ Völlig orientierungslos. So hatte sich der Augenblick an dem letzten Sonntag angefühlt. Die Bilder und die Stimme waren so auf mich eingestürzt, dass ich mir die Ohren zuhalten musste und auf den Boden gesunken war. Laufen oder Stehen waren nicht mehr möglich gewesen. Ich hatte versucht, meinen Mann zu rufen, hatte verzweifelt versucht, in meinem Kopf seinen Namen ausfindig zu machen. Benedikt. Er war mir wieder eingefallen und ich hatte ihn rufen können. Nur war er gerade im Garten gewesen und hatte mich nicht gehört. Zum Glück waren die Bilder und die Stimme in wenigen Minuten wieder verschwunden. Mein Atem war unregelmäßig gegangen. Ich hatte die ganze Zeit über meine Augen fest zugekniffen gehabt.

Wieder ein Nicken der Ärztin, als sie sich meine Geschichte anhörte. Unbeirrt schrieb sie weiterhin in ihren Computer meine Erzählungen hinein. Dann drehte sie sich langsam zu mir um. Ihre Augen wurden mitfühlend. „Was sie erzählen, hört sich für mich im ersten Moment nach dem Anfang einer Epilepsie an.“

Epilepsie. Das Wort war mir nicht fremd. Eine Schulfreundin von mir litt seit ihrer Kindheit an der Krankheit. Nur viel schlimmer. Der Kontrollverlust betraf nicht nur ihr Gehirn, sondern ihren kompletten Körper. Sie konnte von jetzt auf gleich in sich zusammensacken und einen Anfall erleiden, der mit unkontrollierbaren Muskelzucken einherging. Eine kurze Zeit war sie nicht mehr ansprechbar und weggetreten. Ihre Augen waren dabei immer weit aufgerissen. Ich erinnerte mich daran, als sie einmal bei sich zuhause die Treppe hinunter laufen wollte und sie plötzlich einen Anfall überfiel. Sie kippte um und stürzte die Treppe hinunter. Zum Glück brach sie sich „nur“ die Nase. Seit einigen Jahren nimmt sie starke Tabletten ein, um die Anfälle einzudämmen. Sie darf niemals Autofahren, sollte keine Kinder bekommen und keinen Alkohol trinken. Das alles wusste ich bereits über Epilepsie.

Dass ich diese Krankheit jetzt haben sollte, konnte ich nicht ganz glauben. Dennoch überraschte es mich nicht, als die Ärztin mir ihre Vordiagnose stellte. Natürlich hatte ich im Vorfeld zu meinem Arztbesuch meine Symptome bereits im Internet recherchiert gehabt. Dabei hatte ich immer wieder gelesen, dass diese Kontrollverluste meines Gedächtnisses eine Art von Epilepsie waren. Aber war es das wirklich? Konnte ich aus dem Nichts an Epilepsie erkranken? Oder steckte vielleicht was ganz anderes dahinter?

Die Ärztin fuhr fort und blickte mir eindringlich in die Augen: „Aber das müssen wir von einem Facharzt abklären lassen. Zuerst schreibe ich Ihnen eine Überweisung für ein MRT. Wir müssen ausschließen können, dass Sie keinen Tumor im Gehirn haben. Wenn Sie im MRT waren und den Befund haben, kommen Sie wieder zu mir und wir besprechen die weitere Vorgehensweise.“

Schon bei dem Spaziergang mit meiner Freundin war mir plötzlich der Gedanke in mein Bewusstsein gedrungen, dass ich vielleicht ein Tumor im Kopf haben könnte. Sofort war Panik in mir aufgestiegen. Auch jetzt, als ich neben der Ärztin saß, überkam mich ein Schauer der Angst. Was würde geschehen, wenn die Ärzte in meinem Kopf etwas finden würden? Einen Tumor im Gehirn, der die Ursache für meine epileptisch ähnlichen Anfälle war? Würde ich dann operiert werden? Würde eine Operation überhaupt möglich sein? Wenn nicht, müsste ich vielleicht sterben?

„Zudem werde ich Sie noch krankschreiben“, fügt die Ärztin noch hinzu und wand sich wieder ihrem Computer zu.

Krankschreiben?“, wiederholte ich ihre Worte ungläubig. Mit einer Krankschreibung hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mir ging es ja soweit gut. Ich hatte keine Erkältung, keine Grippe. Nur etwas müde war ich in letzter Zeit aus unerklärlichen Gründen.

Als die Worte aber langsam in mein Bewusstsein sickerten, ergaben sie dann aber plötzlich Sinn. Ich hatte keine Ahnung, woher diese epileptisch-ähnlichen Anfälle stammten und inwieweit sie sich auf meinen restlichen Körper auswirken könnte. Wenn die Ärztin Recht behielt und ich hatte Epilepsie, würde ich dann wie meine Freundin irgendwann auch keine Kontrolle mehr über meinen Körper haben?

„Ja, ich werde Sie krankschreiben, solange wir nicht wissen, was los ist“, murmelte die Ärztin vor sich hin, während sie ganz vertieft in ihren Bildschirm war.

Und so geschah es. Mit einer Krankschreibung und einem Überweisungsschein für ein MRT verließ ich die Arztpraxis und setzte mich in mein Auto. Ohne den Motor anzuschalten, holte ich mein Handy aus der Tasche und suchte nach einer Radiologie in der Umgebung. Tatsächlich war die nächste nur 30 Minuten Fahrtzeit von mir entfernt. Sofort wählte ich die angegebene Nummer, rief dort an und erklärt der Frau am anderen Ende der Leitung von meinem Anliegen. Sie fragte mich, ob ich privat oder gesetzlich versichert sei. Als ich mit „privat“ antwortete, bekam ich einen Termin für die kommende Woche. Wie lange hätte ich wohl gewartet, wenn ich gesetzlich versichert gewesen wäre?